Vom Konzept zur Billigmasche

Einst Nischenprodukt, dann Mainstream und heute Online-Schnäppchen: Wie sich der Retro- oder Vintage-Trend in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt hat.

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Peter Hummel (Text und Foto)
29.01.2020

Retro-Velos haben ein Gesicht, Label und Datum: Auf der Eurobike 2004 stellt Frank Patitz aus Leipzig erstmals seine im Jahr zuvor gegründete Marke Retrovelo aus. So bescheiden der Stand, so gross die Beachtung: Unerhört das Soundmobil, an dem der Manufakteur persönlich am Plattenteller steht, exotisch die nostalgischen Velos mit ihren glatten, fetten Reifen inmitten der damals noch dominierenden Mountainbikes. Retrovelo vereint gleich zwei Stilelemente: Das klassische Fahrrad und Ballonreifen aus den Zwanzigerjahren – darum prangt als Sublabel auch «Ballonrenner» auf dem Steuerrohr. Dass das kein Spleen sein sollte, ahnt offenbar Schwalbe: Die führende Reifenmarke kreiert für Retrovelo eigens den «Fat Frank».
Als Erfinder des Vintage-Rads will Patitz gleichwohl nicht herhalten. Immerhin produziert da in England eine Manufaktur namens Pashley seit 1926 Klassikräder. Doch Retrovelo kann eine neue Strömung initiieren, zusammen mit den kurz darauf in Erscheinung tretenden italienischen Manufakturen Abici und Bella Ciao, die mit ihren geschlossenen Kettenkästen der Nostalgie noch eins draufsetzen. Gut, in diesem Stil gibts seit eh und je die Hollandräder; das sind allerdings zumeist Günstigmodelle ohne spezielles Styling (wie etwa Accessoires).

Die Retro-Welle rollt an

Allmählich entdecken auch grosse Marken diese Nische, egal, ob sie durch ihre Geschichte dazu legitimiert sind (wie etwa Diamant) oder nicht. Mit den typischen «Retro-Elementen» wie Schwanenhals, Körbli und vielleicht sogar Rockschutz werden husch Nostalgiemodelle kreiert. Dass es sich dabei meist nicht um gemuffte Stahlrahmen, sondern um die heute üblichen klobigen Alurahmen handelt, bemerken ja eh nur Kenner. Diese entdecken aber bei gemeinnützigen städtischen Velowerkstätten eine authentischere Quelle: echte, restaurierte Vin­tage-Räder – jedes Exemplar ein Einzelstück. Mit Roetz in den Niederlanden hat sogar eine Marke die stilvolle Aufarbeitung gebrauchter Velos kommerzialisiert.
Dass der Retrolook doch nicht der ganz grosse Trend wird, mag daran liegen, dass er von zwei anderen zeitgleichen Strömungen «konkurrenziert» ist: den Fixies sowie den Cruisern und Choppern. Es scheint aber, dass die Retro-Bewegung nochmals an Momentum gewinnt durch die Lancierung neuer Marken, vielleicht nicht ganz zufällig aus dem nordöstlichen Europa, wo wirklich noch das Heritage oder eine besondere Design­affinität gegeben ist: Viva aus Dänemark, Creme aus Polen, Erenpreiss aus Lettland und Pelago aus Finnland.
Im Fahrwasser des Retro-Dampfers treten in den letzten Jahren auch Billigheimer auf den Plan. Deren preisbewusste Käuferschaft hat mit dem Esprit der ursprünglichen Retro-Szene und deren stylishen Events nichts mehr am Hut. Marken wie Fam. Huber oder Siech führen rotzfrech Namen mit Urschweizer Anmutung, haben prima vista auch einen ansprechenden Look – sind aber angesichts der Fernost-Billigstproduktionen eine Schindluderei, was die einst durchaus wertige Retro-Idee angeht.

Wo bleiben die Traditionsmarken?

Noch eine Schublade tiefer steigt Landi ein: Retro für 269 Franken; da muss dann «Lederoptik» reichen. Immerhin etwas reeller will mit Jumbo ein weiterer Grossverteiler im Retro-Geschäft mitmischen: mit sechs Edelradmodellen (zu Preisen von 700 bis 800 Franken), die mittels Konfigurator etwas individualisiert werden können und deren Rahmen aus einer italienischen Manufaktur stammen – der gleichen nämlich, bei der Trader Luca Ruggiero seine hochwertige Edelrad- Customlinie fertigen lässt.
Schade, dass es bei der Retro-Welle die zwei traditionellen Schweizer Marken Allegro und Cilo nicht zu mehr Ehre schaffen: Der Rechteinhaber Colag liefert Allegro als Billigmarke an Coop und bietet sie selber in seinen Velolofts feil; Cilo wird als Kindervelomarke verscherbelt. Doch der in limitierter Auflage präsentierte Cilo «Swiss Racer» des Rahmenbauers Wim Kolb könnte ein neuer Ansatz sein.