Mehr Milano, bitte!

Während es andernorts velomässig vorwärtsgeht, fährt die Schweiz mit angezogener Hinterradbremse. Dabei müssten Städte nur nach Mailand schauen, um zu sehen, wie es ginge. 

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Nicole Soland
30.06.2020

Die Corona-Pandemie zwinge Metropolen dazu, «Mobilität neu zu denken», las ich Ende Mai in der NZZ. Und weiter: «Schon jetzt entsteht eine ‹Maxipiste› für Fahrräder vom Zentrum in Richtung Norden. Auf einem ersten Teilstück hat man den Autos zwei von vier Fahrbahnen weggenommen, dafür haben Velos und Fussgänger jetzt viel mehr Platz als früher, und Wirte können ihre Tischchen aufstellen.» Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Den Autos werden Fahrbahnen weggenommen, und die NZZ beschreibt das völlig sachlich? Dieselbe Zeitung, die sich sonst vor allem für die Freunde der Parkplätze (FdP) starkmacht? Also von Zürich handelt dieser Artikel wohl kaum, war mein erster Gedanke, von Genf auch eher nicht … Was ist da los? Da fiel mein Blick auf den Kopf der Seite, die ich in der Hand hielt, und richtig, da stand weder «Schweiz» noch «Zürich und Region», sondern «International». Das Beispiel mit den neu fürs Velo gedachten Fahrbahnen stammt aus Mailand. Schon nach wenigen Tagen sei dort eine starke Zunahme des Veloaufkommens gemeldet worden – von 6 auf 23 Prozent.

Und es kommt noch besser: «Um schnell zu neuen Velowegen zu kommen, wurde das italienische Verkehrsgesetz geändert. Velowege müssen nicht mehr aufwendig ausgeschildert werden, es reichen Markierungen auf dem Strassenbelag. (…) An Ampeln werden die Fahrräder künftig vorne warten, nicht mehr eingequetscht am Rand.» Nun wollen Bürgermeister anderer italienischer Städte das Vorbild Mailand nachahmen, und der Staat subventioniert die Anschaffung von Velos mit bis zu 500 Euro. Und das in einem Land, in dem im Alltag nach wie vor sehr viel Auto gefahren wird! Wer hierzulande schon länger regelmässig mit dem Velo unterwegs ist, stellt ebenfalls fest, dass viel mehr Menschen Velo fahren als sonst – auch solche, die offensichtlich noch nicht sehr geübt sind, sprich, die früher wahrscheinlich das Tram oder den Bus nahmen.

Und was machen unsere Behörden, um diesen Aufschwung des Velos zu unterstützen? Sperren sie Autofahrbahnen, markieren sie Velostreifen, machen sie Kreuzungen sicherer? Tja, wir kennen die Antwort, leider. Eine grosse Chance wird gerade vertan. Hoffnungslos ist die Lage trotzdem nicht, zum Glück: Je mehr Leute im Alltag Velo fahren, desto rascher ist die kritische Masse erreicht, die selbst die überzeugteste «Nur-ja-­keine-Extrawurst-fürs-Velo»-Verkehrsplanung nicht mehr übersehen kann. Je mehr Velos sich ihren Raum auf der Stras­se nehmen, desto rascher wachsen sowohl die Erkenntnis, dass dieses Verkehrsmittel seine eigene, angepasste Infrastruktur braucht, als auch der Wille, diese bereitzustellen.

Und dennoch: Ein bisschen mehr Milano würde unseren Städten und Dörfern sicher nicht schaden …