Leben auf zwei Rädern

Der Journalist Martin Born blickt zurück und analysiert, wie sich der Radsport verändert hat. Bei der Fahrphilosophie nerven die Männer und beeindrucken die Frauen.

Dres Balmer, Autor

Dres Balmer, Autor (dres.balmer@bluewin.ch)
Kultur, 03.02.2022

Die Worte zum Sporte

Auf dem Buchdeckel lädt ein ungepflegter Knorrli samt Velo ein zur Lektüre von «Tages-Anzeiger»-Sportkolumnen, 108 an der Zahl, aus den 2010er-Jahren. Deren 45 handeln vom Radsport, und da lauern Überraschungen. 

Born erforscht die Einflüsse der Profis auf die Gümmeler, die sich, drinnen wie draussen, ins digitale Radeln stürzen. Versunken im ganzen Datenmüll von Kalorien und Watt, fragen die sich plötzlich, wie es früher war, «als wir einfach Velo fuhren». Sie haben es vergessen; die schlichte Fahrt im Hier und Jetzt schaffen sie nicht mehr.

Dauerthema Doping: Der Autor wagt die These, dass es praktisch kaum mehr existiert, und siehe da: In den Jahren, als der Doping-Verdacht über dem Peloton schwebte, verfolgten am Fernsehen viel mehr Menschen die grossen Rundfahrten als in den späteren, den sauberen Saisons. Der Doping-Krimi ist der Einschaltquote also förderlicher als anständiger Sport.

Wie gehts dem Handwerk der Sportjournalisten? Erst konnten die direkt in Kontakt treten mit den Profis, später wurde der Zugang  immer schwieriger. Heute servieren die Stars ihre Befindlichkeiten dem Publikum über die sozialen Medien gleich selbst. Es braucht keine Journalisten mehr, die Sportpresse serbelt. 

Der Beitrag «Besser hatten wir es nie» ist eine Hommage an die Radioreportage, die sprachlich höchste Ansprüche stellt. Der Sprecher muss innert Sekunden genau die Worte finden, die vor dem inneren Auge des Hörers Bilder schaffen. Die meisten Direktsendungen im Fernsehen sind im Vergleich dazu sprachliche Verarmung. Mehrmals behandelt das Buch Sprachentwicklungen mit gnadenlosem Scharfsinn, und das sind Analysen, die weit über den Sport hinausführen.

«Born Free», Martin Born, Mit Illustrationen von Marc Locatelli, edition 8, Zürich 2021, 20.65 Franken

Streben nach Weisheit

Da sind Beiträge von 15 Autorinnen und Autoren aus aller Welt, vorwiegend übersetzte aus dem angelsächsischen Raum. Da sind manche schon wieder aufgewärmte Legenden von L’Alpe d’Huez, Eddy Merckx, Mont Ventoux, Marco Pantani et cetera, die man schon kennt; das inflationäre Wort «legendär» nervt einen schon lange. Zwei Beiträge stechen aber heraus, und in denen geht es um Frauen.

Der eine mit dem Titel «Rad fahren wie ein Mädchen», von Catherine A. Womack und Pata Suyemoto, zeigt auf, wie unterschiedlich Männer und Frauen über das Velofahren berichten. Die Männer schreiben und reden individualistisch, technisch-numerisch, besessen vom Ich-will-gewinnen-Instinkt, es geht um Sieg oder nichts. Anders bei den Frauen:  «Partnerschaftliche Modelle des Sports betonen Gesundheit, Zusammenarbeit und Vergnügen stärker als die Philosophie des Gewinnens um jeden Preis.»

Der andere, «Mein Leben als Philosophin auf zwei Rädern», geht noch weiter. Heather L. Reid erzählt spannende Muster aus ihrem Werdegang als Profifahrerin. Sie hat Erfolg, sie macht mit im Zirkus, und sie findet heraus, wie frau sich fühlt, wenn sie sich in einem Sprint richtig ausgekotzt hat, nämlich so: «Meine Zähne brummten!»

Knapp verpasst Frau Reid die Aufnahme in die olympische Frauschaft: «Man könnte nun denken, ich hätte am Boden zerstört sein müssen. (...). Stattdessen überraschte mich ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit.» Sie fährt weiterhin Velo, auch als Professorin der Philosophie. Pedalieren ist jetzt «Streben nach Weisheit», und sie versteht, dass «Radfahren für mich Philosophie ist. Damals wusste ich nur, dass ich sogar mit einer Niederlage zufrieden war.»

«Die Philosophie des Radfahrens», Peter Reichenbach (Hg.) u. a., Suhrkamp Taschenbuch 4743, Berlin 2020, 15.90 Franken