In der Stille liegt der Erfolg

Das Alpenbrevet ist der grösste Radevent der Schweiz und jährlich ausgebucht. Was macht seinen Mythos aus? Wir versuchten ihn auf der diesjährigen Goldtour zu ergründen.

Emil Bischofberger

Emil Bischofberger, Autor
27.09.2024

Um 5.30 Uhr ist es noch dunkel – und abgesehen von einem Speaker-Duo ruhig. Die kribblig bis aufgeregte Stimmung vor dem Start fehlt in Andermatt komplett. Da ist auch keine einpeitschende oder hymnische Musik. Nichts deutet darauf hin, dass hier gleich einer der grössten Veloevents der Schweiz startet. 3250 Teilnehmende fahren am ersten Septembersamstag mit, über zwei bis sechs Pässe.

Vielleicht liegt es am Format – es gibt eine Zeitmessung, aber keine Rangliste. Sprich: Es geht primär darum, die Passherausforderung zu meistern. Ein Rennen wäre gar nicht möglich, das Alpenbrevet findet im Wochenendverkehr statt.

Meditation mit surrenden Ketten

Auch deshalb werden die Teilnehmenden so früh am Morgen auf die Reise geschickt – und damit sie genug Zeit haben, um auch vor dem Eindunkeln wieder zurück zu sein. Zielschluss ist um 21 Uhr. Vor allem auf den beiden langen Distanzen Platin (Susten, Grimsel, Nufenen, Lukmanier, Oberalp) und Gold (Oberalp, Lukmanier, Nufenen, Furka), mit Distanzen deutlich über 200 Kilometer und 7000 respektive 5000 Höhenmetern, gibt es viele Velofahrende, die den ganzen Tag ausschöpfen.

«Zu hören ist nichts, ausser dem feinen Surren der geölten Ketten. Kein Wort wird gesprochen, die Stimmung ist fast meditativ.»

Diese langen Strecken sind klar in Männer­hand, auf der Platin-Tour beträgt der Frauenanteil knapp 7 Prozent, auf der zweitlängsten Goldroute verdoppelt sich dieser auf 13 Prozent. Doch die Frauen holen auf: Auf der Bronze-Distanz über zwei Pässe haben sie bereits einen Anteil von 50 Prozent. 

Wir rollen auf der Goldtour mit. Den Oberalp hoch schlängelt sich im Dunkeln ein langer Tatzelwurm aus weissen und roten Lichtern. Zu hören ist nichts, ausser dem feinen Surren der geölten Ketten. Kein Wort wird gesprochen, die Stimmung ist fast meditativ. Wenig später bildet sich am Lukmanier langsam eine Gruppe von Gleichstarken. Gesprochen wird weiterhin wenig, wir verstehen uns über den gemeinsamen Willen, zügig auch diesen Pass zu erklimmen. 

Darin unterscheidet sich das Alpen­brevet von einer Fahrt unter Freunden: Das Tempo ist höher, als man es freiwillig anschlagen würde. Entsprechend ist da weniger Luft für ein paar lockere Worte. 

Startplätze sind rar und begehrt

Das gemeinsame Leiden stösst auf Anklang: Seit 2021 ist das Alpenbrevet jedes Jahr ausgebucht, 2024 schon am 4. Januar. Man hätte 1000 bis 2000 weitere Startplätze verkaufen können, heisst es vom OK. Nur: Das dürfte dieses gar nicht. Die Anzahl Startplätze ist abhängig von den bewilligten Quoten der beteiligten Passkantone Uri, Graubünden, Tessin, Wallis und Bern. Am restriktivsten geben sich die Berner: Nur für 500 Personen haben sie dem Alpenbrevet die Fahrt durch ihren Kanton erlaubt, weshalb einzig die Platintour über Susten und Grimsel führt.

«Seit 2021 ist das Alpenbrevet jedes Jahr ausgebucht, 2024 schon am 4. Januar. Man hätte 1000 bis 2000 weitere Startplätze verkaufen können.»

Wer verstopft da die Strasse?

Die Leventina hoch finden erste Minigespräche statt. Bei der Verpflegung in Airolo füllen wir unsere Bidons, stopfen Gels in die Tricottaschen und laben uns am Buffet. Es nieselt, geht steiler bergauf, unsere Atmung wird kürzer. Die Fahrt bis zur Passhöhe ist eine lange Lektion in Demut. Immerhin: Uns geht es besser als den Teilnehmenden auf der Bronzerunde. Sie müssen den Nufenen in diesem garstigen Wetter runterrollen. 

Wir haben mehr Glück: Kurz nach der Passhöhe reissen die Wolken auf, im Wallis scheint die Sonne. Der Furka wird so zum Genuss, die letzten Kraftreserven bringen uns nach oben. Leider wird dann die Euphorie der Schussfahrt hinunter ins Urserental jäh gebremst. Was 3250 Velofahrerinnen und Velofahrer nicht schaffen, gelingt dem motorisierten Verkehr. Auf der engen Strasse stockt der Verkehr, steht plötzlich Sport­wagen an Sportwagen, Töff an Töff, und voraus ein paar Wohnmobile.

In Andermatt sind wir froh, am Kreisel zum Ziel abbiegen zu können. Musik dröhnt auch jetzt keine. Aber ein Finisher-Bier, das gibt es schon. Gut so.