Hammer über Huttwil

Schon vor einem Jahr sorgte Flyer mit Entlassungen für Schlagzeilen. Ende Oktober folgte das endgültige Aus der E-Bike-Fertigung am Stammsitz.

no-image

Laurens van Rooijen, Pete Mijnssen
Schwerpunkt, 12.11.2024

Lesen ohne Abo.

Zahlen Sie nur, was Sie lesen!

Mit tiun erhalten Sie unbeschränkten Zugriff auf alle Velojournal-Premium-Inhalte. Dabei zahlen Sie nur, solange Sie lesen.

  • Alle Premium-Artikel
  • Zugang zum E-Paper
  • Flexibles zahlen

Sie haben bereits ein Velojournal-Abo? Hier einloggen

Den derzeit noch rund 170 Mitarbeitenden der Flyer AG wird der 30. Oktober in denkbar schlechter Erinnerung bleiben: Das Mana­gement informierte sie an jenem Tag über die zweite tiefgreifende Restrukturierung innert Jahresfrist. Die Pläne haben es in sich. Die Verwaltung am Stammsitz in Huttwil soll auf ein Minimum reduziert, die Produktion in Zukunft ausserhalb der Schweiz angesiedelt werden. Zudem sollen vermehrt Synergien innerhalb des ZEG-Verbundes genutzt werden. Nur ein kleiner Kern der Belegschaft in Huttwil soll in Administration und Logistik weiterbeschäftigt bleiben.

Das Ende der Schweizer Premium-Marke

Noch vor Kurzem hatte Flyer-CEO Andreas Kessler in einem Interview mit Velojournal kritische Fragen zum Produktionsstandort Schweiz zurückgewiesen. Anlässlich einer Produktpräsentation an einem schönen Herbsttag in St. Gallen blickte er trotz Überbeständen zuversichtlich in die Zukunft. Langsam erhole sich die Branche von der Krise, und man dürfe das enorme Potenzial des E-Bikes nicht vergessen. Für das nächste Jahr prognostizierte er: «2025 müssen wir noch einmal durch das Tal der Tränen, bis die Lagerbestände abgebaut sind.» Wie andernorts auch setzte man in Huttwil auf einen schönen Herbst mit vielen Abverkäufen. Der Blick in die Schaufenster und in den Himmel zeigte aber wenig Tendenzen, dass sich die verhaltene Konsumstimmung gegen Ende des Jahres noch aufgehellt hätte.

«Die Produktion der Flyer-Bikes ist sichergestellt. Flyer bleibt ein Schweizer Unternehmen. Alle Vor- und Nachorder werden wie vereinbart bedient. Der Vertrieb läuft normal weiter.»

Georg Honkomp, CEO ZEG

Offenbar führten die hohen Lagerbestände und die tiefe Nachfrage zu dem Ende Oktober erfolgten Schnitt. Die Massnahmen werden in einem Statement des Managements als unumgänglicher betriebswirtschaftlicher Schritt bezeichnet, um die Eigenständigkeit als Schweizer Unternehmen im umkämpften Markt zu erhalten.

Aber was heisst «Eigenständigkeit», wenn gleichzeitig das Werk faktisch geschlossen wird und eine Verlagerung ins Ausland (die Rede ist vom Kettler-Werk im Saarland, das auch zur ZEG-Gruppe gehört) ansteht? Das Management nahm auf Anfrage von Velojournal keine Stellung, vom ZEG-Stammsitz in Köln antwortete CEO Georg Honkomp kurz und knapp: «Die Produktion der Flyer-Bikes ist sichergestellt. Flyer bleibt ein Schweizer Unternehmen. Alle Vor- und Nachorder werden wie vereinbart bedient. Der Vertrieb läuft normal weiter.» Was «normal» heisst, bleibt unbeantwortet. 

Die Folgen der Entlassungen

Mehr Einblick gibt ein früheres Rundschreiben von Honkomp an den Schweizer Fachhandel, in dem er seine Kunden schon fast flehentlich bittet, der Marke treu zu bleiben, und «weitere Sparmassnahmen mit Personalabbau» ankündigt. Kessler hatte dies im Gespräch mit ein paar Stellen abgetan. War der «perfekte Sturm» aus Köln schon früher im Anzug, und machte man in Huttwil auf Zweckoptimismus?

Tatsächlich hat Flyer in der Branche schon länger nicht mehr den besten Ruf: lange Wartefristen, schlechter Service, mangelnde Kundenbetreuung, wenig Innovation bei der Modellgestaltung. Viele Händler sind deshalb abgesprungen und haben dem E-Bike-Pionier den Rücken gekehrt. Hinter vorgehaltener Hand wird von schweren Managementfehlern gesprochen, die auch nach dem Entlassungsschock im letzten Jahr nicht aufgearbeitet wurden.

Vor und hinter den Kulissen der Branche rumort und rumpelt es zurzeit erheblich, auch wenn nur wenig nach aussen dringt. Oft ist dabei nur die Spitze des Eisbergs sichtbar.

Damals musste Flyer 80 Personen entlassen, zusammen mit natürlichen Abgängen wurden 90 Stellen abgebaut. Die Montagelinien wurden von drei auf zwei reduziert, auf den Stand von 2019. Rückblickend kam Flyer damals mit einem blauen Auge davon: Es wurde weniger Personal entlassen, als vor fünf Jahren neu eingestellt worden war.

Dabei ist Flyer nicht die einzige Velofirma, die mit Problemen kämpft. Vor und hinter den Kulissen der Branche rumort und rumpelt es zurzeit erheblich, auch wenn nur wenig nach aussen dringt. Oft ist dabei nur die Spitze des Eisbergs sichtbar. Erinnert sei etwa an den Eklat bei Scott im Frühling, den Schuldenschnitt beim Schwergewicht Accell-Gruppe, das Sanierungsverfahren bei der Velofirma Simplon, um nur drei Beispiele zu nennen. Lauter schlechte Nachrichten nach einer durch­zogenen Saison. Kurz: Zwei Jahre mit schwacher Nachfrage, übervollen Lagern und geringen Kapitalreserven haben der Velobranche in Europa zugesetzt. 

Irrglaube an «Made in Switzerland»

Flyer gehörte weltweit zu den Elektrovelopionieren – ist die Zeit dieses Premiumherstellers vorbei? Der Ex-Uhrenbranchenprofi Kessler hat Flyer gerne mit einer Luxusuhr verglichen. Aber kann man das E-Bike mit einer Rolex vergleichen? Offenbar nicht. Bis zuletzt glaubte Kessler, dass die ZEG den Produktionsstandort Huttwil nicht fallen lassen werde: «Wenn es andere Pläne gäbe, hätte man nicht einen hohen einstelligen Millionenbetrag in den Huttwiler Ausbau investiert.»

Flyer trägt laut eigenen Angaben nur einen Siebtel zum Ergebnis des ZEG-Milliardenkonzerns bei, unter dessen Dach Marken wie Bulls oder Kettler operieren. Da hat es wenig genützt, dass Flyer von der ZEG als Premium-Brand gekauft wurde, weil ein solcher im Sortiment fehlte. «Wir sind sozusagen die Kirsche ganz oben auf dem Sahnehäubchen», so Kessler. Diese Kirsche hinterlässt einen bitteren Nach­geschmack.

lvr. Ein Blick auf die wichtigsten Velomärkte in Europa zeigt, dass die Schweiz keine Insel ist. In keinem dieser Märkte kamen die Absatzzahlen nach Einheiten an das Jahr 2022 heran, wobei sich der Rückgang im Bereich von 20 bis 30 Prozent bewegte. Zugleich lässt die fortschreitende Elektrifizierung des Velos die Durchschnittspreise pro verkaufte Einheit ansteigen. Dies führt dazu, dass die Umsätze mit dem Verkauf von Velos und E-Bikes weit weniger stark einbrachen als die Stückzahlen.

Dieser Effekt zeigt sich umso deutlicher, je höher der Marktanteil von E-Bikes ausfällt. In Ländern wie Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien liegt der Marktanteil von E-Bikes schon über 50 Prozent, während er etwa in Italien nur 20 Prozent beträgt.

Ein Faktor, der in der Schweiz bis dato nur eine marginale Rolle spielt, erwies sich in den vergangenen Jahren besonders in Deutschland als Segen für den Fachhandel: Das Leasing von Diensträdern hat die Abverkäufe im oberen Preissegment gestützt – und damit einen Beitrag geleistet, dass die Krise nicht ungefiltert auf den Velohandel durchschlug.