«Die Velorution begann in Paris mit einem Streik.»

Spätestens seit der Corona-Pandemie lässt Paris mit seiner Verkehrspolitik aufhorchen. Stadtplaner Clément Dusong erklärt im Gespräch mit Velojournal, dass diese Entwicklung schon viel früher ihren Anfang nahm.

Pete Mijnssen ist Chefredaktor des Velojournals.

Pete Mijnssen, Chefredaktor (pete.mijnssen@velojournal.ch)
Schwerpunkt, 27.09.2024

Velojournal: Herr Dusang, wie beurteilen Sie Paris als Velostadt?

Clément Dusong: Seit rund zwanzig Jahren wird im Zentrum deutlich mehr Velo gefahren als in der Peripherie, die Pandemie sorgte für zusätzlichen Schub. Früher war das Gegenteil der Fall. In den 70er-Jahren gab es dort noch eine starke Velokultur. Warum? Natürlich wurde seither in Paris und in den Zentren der Grossstädte die Nutzung von Autos eingeschränkt und das Velo gefördert. Aber am Stadtrand entstanden weiterhin Autobahnen, Einkaufszentren und Infrastruktur, die ein Auto unverzichtbar machten. Aber auch der Ausbau der öffentlichen Verkehrsnetze hatte eine Veränderung der Mobilität zur Folge. Mit der Einführung der unbegrenzten Abonnementkarten konnten Studenten und prekär aufgestellte Menschen auf billige und unbegrenzte öffentliche Verkehrsmittel zugreifen, während sie früher vielleicht gezwungen waren, das Fahrrad zu benutzen.

Und wie kam es zum Umschwung zugunsten des Velos?

Die Abkehr von der autogerechten Stadt begann bereits in den 70er-Jahren, eine Politik zugunsten des Radverkehrs aber erst in den 90ern. Vor allem beim wochenlangen Transportstreik im öffentlichen Nah- und Fernverkehr 1995 holte die Pariser Bevölkerung massenhaft ihre Velos aus dem Keller. In der Folge begann man unter der Ära von Bürgermeister Jean Tiberi (1995 bis 2001) über eine effiziente Radinfrastruktur nachzudenken, und es entstanden die ersten grosszügigen Veloverbindungen. Gleichzeitig war auch bezüglich Luftverschmutzung und Ozonbelastung innerstädtisch der Höhepunkt der autogerechten Stadt erreicht. In der Folge schränkte Tiberi den Autoverkehr ein und förderte den öffentlichen Verkehr und das Velofahren. 

Startete damit schon die Verkehrswende?

Unter Tiberi wurden viele Projekte angedacht, aber in der Praxis blieb vieles begrenzt. Sein Nachfolger Bertrand Delanoë führte nach 2001 das Konzept weiter und setzte vieles erfolgreich um. Mit dem Velocity-Kongress im Jahr 2003 setzte er die Metropole neben Amsterdam und Kopenhagen auf das globale Radar der Velostädte. Verglichen mit heute war Paris aber noch keine fahrradfreundliche Stadt. Viel Schwung brachte erst die Einführung des Veloverleihsystems Vélib im Jahr 2007. 

«Bei den Olympischen Spielen lief es sehr gut. Der öffentliche Verkehr absorbierte einen Grossteil der Touristenströme.»

Clément Dusong

Das überrascht. Ausgerechnet die schweren Gratisvelos, über die sich die halbe Welt lustig machte? 

Genau. Auf jeden Fall trug Vélib viel dazu bei, das Velo wieder sichtbar zu machen. Nicht mehr und nicht weniger. Und so hat es auch eine ziemlich wichtige Politik zugunsten des Radfahrens wiederbelebt: Ende der 2000er-Jahre wurden unter Delanoë nach und nach immer mehr Fahrradverbindungen geschaffen. Anne Hidalgo führte nach ihrer Wahl im Jahr 2014 diese Politik konsequent weiter und baute kontinuierlich an der Vision einer Velostadt. Ein symbolischer Schritt war bereits 1994 mit der vorübergehenden Sperrung der Seine-Uferwege getan, eine Schnellstrasse damals. Die endgültige Sperrung erfolgte aber erst zwanzig Jahre später unter Hidalgo.

Der ökologische Umbau startete also bereits vor über 20 Jahren?

Gesichert vor mindestens 20 Jahren. Dennoch stehen wir im Prozess einer vollständig kreislauffähigen Stadt noch immer am Anfang. Laut den neusten Zahlen werden erst knapp 12 % aller Fahrten in Paris mit dem Velo zurückgelegt. Wenn die Fahrradnutzung weiter zunehmen soll, müssen wir sie in Bezug auf Fussgänger und den öffentlichen Verkehr besser organisieren. Sei es für die Einwohner, für die Touristen, aber auch für die gesamte Logistik, dem Warenverkehr. 

Im Vorfeld der Olympischen Spiele befürchteten autonahe Kreise, dass das grosse Verkehrschaos ausbrechen würde.

Im Gegensatz zu den Befürchtungen lief es sehr gut. Ich sah es mit eigenen Augen. Der öffentliche Verkehr konnte einen Grossteil der Tourismusströme absorbieren.

Warum gibt es noch immer so viel Polemik gegen die Abkehr von einer auto­gerechten Stadt?

Das ist wirklich interessant, denn der Autoverkehr ist seit Anfang der 90er-Jahre kontinuierlich zurückgegangen. In Paris gibt es also immer weniger Autoverkehr, und es wird wahrscheinlich so weitergehen. Vielleicht werden wir nicht 0 Prozent erreichen, aber wir werden sicherlich unter 5 Prozent bei Fahrten in der Innenstadt bleiben.

Die Kontroversen sind ein Teil des politischen Spiels?

Klar gibt es Menschen, die in den Vororten leben und auf das Auto angewiesen sind. Aber das ist die Minderheit. Die meisten kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Zentrum. Für Menschen in der Peripherie ist der schnellste und effizienteste Weg in die Innenstadt der Zug. Der öffentliche Verkehr in Paris mag zwar weniger effizient sein als in der Schweiz. Aber er hat immer noch eine riesige Kapazität, um die meisten Menschen, die nach Paris kommen, zu transportieren. Das sind 2 Millionen Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln pro Tag in ­Paris und fast 10 Millionen in der gesamten Region.

Das Leben in der Innenstadt sei wegen der Verkehrspolitik unbezahlbar geworden, behaupten die Gegner.

Die massive Preissteigerung hat teilweise mit dem Tourismus und den vielen ausländischen Investoren zu tun. In Paris gibt es aber auch viele Sozialwohnungen. Seit zehn Jahren gibt es zudem starke Bestrebungen, die Mietpreise zu deckeln, Höchstpreise festzulegen und die Auswüchse von Airbnb zu begrenzen.

Wie profitiert die Metropolregion vom ökologischen Umbau?

Das Wachstum des Velofahrens in Paris hat allmählich Auswirkungen auf die Aussenbezirke. So sehen wir in der Agglomeration der Ile de France mehr und mehr Velos, die vor zwei Jahren erst in der Innenstadt anzutreffen waren. Mit übersichtlichen, direkten Routen arbeiten wir an einem kohärenten, attraktiven Radwgenetz in der gesamten Region. Dazu gehören auch Bike&Ride-­Stationen.

In der Schweiz spricht man vom Stadt-Land-Graben. Die Bevölkerung drifte politisch auseinander, heisst es. Ist das im Grossraum Paris auch der Fall?

Im Gegenteil, wir beobachten eine Angleichung an den «urbanen Lifestyle». Dabei helfen sicher ein gut ausgebauter öffentlicher Verkehr und Investitionen in die sanfte Mobilität. In Paris ist jede zweite Reise eine zu Fuss. ÖV, zu Fuss gehen und Fahrrad ergänzen sich dabei optimal. Und ja, je dichter die Stadt gebaut ist, desto mehr Chancen gibt es für die sanfte Mobilität.

«Heute wählt man in Paris kaum mehr dieses Verkehrsmittel. Vielleicht ein bisschen den Roller. Aber nicht das Auto.»

Clément Dusong

Welche Chance bietet hierzulande die Stadt der kurzen Wege?

Paris besteht von jeher aus vielen Vierteln, in denen alles in einer Viertelstunde erreichbar ist. Viele bewegen sich gerne in diesem Umkreis, anstatt die U-Bahn oder das Auto zu nehmen. Aus Mobilitätsstudien wissen wir, dass sich die Menschen an einem für sie angenehmen Ort gerne zu Fuss oder mit dem Velo fortbewegen. Wenn ich die Wahl habe, laufe ich lieber 30 Minuten zu Fuss, statt 20 Minuten im Auto zu verbringen.

Wie profitieren Velofahrende vom verbesserten Stadtklima?

Es werden viele Bäume gepflanzt und blühende Flächen gesät. Das sorgt für Schatten und bringt kühlere Temperaturen. Schwarzer Teer wird entfernt und durch helleren ersetzt. Für eine Fahrradstadt ist das Klima natürlich wichtig, in einer grünen Stadt ist Radfahren angenehmer. Es ist die Menge von verschiedenen Massnahmen, die einen Unterschied macht.

Wir sind hier in der Klima-Akademie, um uns herum sitzen viele Studierende. Wie denken die über die Pariser Velostadt?

Die jungen Leute sind sehr sensibilisiert für diese Themen. Es gibt immer mehr Studierende, die sich auch für entsprechende Fächer und ein stärkeres zivilgesellschaftliches Leben interessieren. Das sehen wir an den Pariser Universitäten. Und sie fahren fast gar nicht Auto. Heute wählt man in Paris kaum mehr dieses Verkehrsmittel. Vielleicht ein bisschen den Roller. Aber nicht das Auto.