Das Märchen vom waagrechten Schneien

Was haben Märchen mit Veloreisen zu tun? Beide beginnen mit dem Wünschen, dann stellen sich Hindernisse als überwindbar heraus.

Dres Balmer, Autor

Dres Balmer, Autor (dres.balmer@bluewin.ch)
Kultur, 03.02.2022

Das Märchen «Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich» der Brüder Grimm beginnt mit den seltsamen Worten: «In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat ...» Früher also hat das Wünschen geholfen. Wie steht es heutzutage?

Ist zum Beispiel die Weltseuche bald vorbei, oder fliesst sie natürlich in den alten Fluss der Zeit, wie wir ihn zuvor kannten? Wir machen uns also hoffnungsfroh auf eine Entdeckungsreise. Die Brüder Grimm publizierten ihre Märchen vor rund zweihundert Jahren. Der oben zitierte Auftakt macht uns ratlos. Da hilft die Schweizerische Märchengesellschaft, und die unterscheidet zwischen einer «Zeit, als der Mensch vor allem ein wünschendes Wesen war», und einer späteren, «als der Mensch seine Wünsche auch zu verwirklichen vermochte». 

Wir setzen uns hin und wünschen, aber nichts geschieht. Da wollen wir dem Wünschen lieber Beine machen, und zwar auf Langlaufski im Neuenburger Jura. Dieses Wintermärchen ist kalt, der Schnee fliegt uns im Gegenwind von vorne waagrecht an die Brust und ins Gesicht. Die Aussenwelt ist heftig.

Beim Langlaufen auf Ski stellt sich dasselbe Phänomen ein wie beim Pedalen auf dem Velo: Es schiessen uns hundert Gedanken durch das Gehirn und Blitze durch die Seele. Es ist, als ob sich die Innenwelt gegen den Druck der Aussenwelt aufbäumte. Plötzlich spüren wir: Nicht ICH denke, sondern ES denkt. Es denkt: Diese Gegend wird  das Sibirien der Schweiz genannt. Und was ist mit dem russischen Sibirien? 

«Plötzlich spüren wir: Nicht ICH denke, sondern ES denkt.»

Da kommt jemand auf die Idee, mit dem Velo vom einen Sibirien ins andere zu fahren, zehntausend Kilometer von Europa nach Asien, hundert Tage auf dem Velo. Aus der Idee wird ein Wunsch. Wie setzen wir den Wunsch märchengleich um? Zuerst schlucken wir leer und merken auch hier: Das Wünschen allein reicht nicht, wir müssen auch einen soliden Mut aufbauen. Dann, beim Aufbruch Mitte April, nunmehr ins Frühlingsmärchen, ist uns zum Glück der Osterhase, hopphopp, behilflich. Wir kennen ein wenig die Schweiz und Österreich, alles dahinter ist aber fernes Neuland. 

Auf der Spur der magischen Fragen

Wir Reisewilligen planen grosszügig. Wir wissen, dass wir unterwegs nicht viel weiter als bis übermorgen im Voraus denken, weil wir mit dem Fahren in der Gegenwart genug zu tun haben. Es ist auch klar, dass wir auf Hauptstrassen reisen, ohne elektronische Navigationshilfe, über das weite Land, und oft nicht wissen, wo die nächste Herberge steht.

Da bleiben wir ruhig, auch wenn die Nacht hereinfällt, denn Zelt und Proviant sind an Bord. Wir haben losfahren wollen, sind aufgebrochen, und jetzt sind wir unterwegs. Die Grösse der Reisegesellschaft verändert sich von Land zu Land, bald sind sechs, dann vier oder drei Leute unterwegs, die sich gegenseitig ermuntern.

«Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir?»

Die Befürchtung, wir würden die fernen riesigen Wasserströme nie erreichen, bewahrheitet sich nicht, wir überqueren einen nach dem anderen. Als wir auf halber Strecke die Stadt Jekaterinburg im Ural und damit Asien erreichen, empfängt uns auf einem Palast eine riesige Leuchtschrift, die fragt: WER SIND WIR, WOHER KOMMEN WIR, WOHIN GEHEN WIR?

Genau das sind die magischen Fragen, die wir Unterwegenen uns immer wieder stellen; es ist, als hätten die Arbeiter diese Schrift für uns aufs Dach geschraubt.

Jetzt entwickelt sich die Reise zum Sommermärchen. In diesen Tagen fällt auf, dass etwas durch die Luft fliegt. Es sind Tausende kleiner weisser Partikel, es sind Pappelsamen. Es werden immer mehr, die uns im Gegenwind waagrecht entgegenfliegen. Vor dem dunklen Hintergrund des Waldes sind die Puscheln deutlich sichtbar, und sie erinnern an den waagrechten Flug der Schneeflocken im Neuenburger Jura.

Auf der Langlaufloipe im Schneetreiben des Schweizer Sibirien ist uns die Idee gekommen, auf dem Velo ins russische Sibirien zu fahren. Hier treibt uns der Wind statt Schneeflocken Pappelsamen entgegen. Im Jura war es waagrechter Februarschnee, und hier ist es waagrechter Junischnee. Schnee dort und Schnee hier schlägt uns ins Gesicht. In Sibirien und in Sibirien muss es schneien – aber bitte waagrecht!