Blindes Vertrauen in der Steilkurve

Christof Wynistorf ist gross gewachsen und kräftig. Doch die Handgriffe, die er an seinem Renntandem ausführt, sind sachte und gefühlvoll. Beinahe zärtlich umfasst er jedes Werkzeug und jede Schraube. Er ist blind.

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Nicolai Morawitz
Sport, 02.07.2021

In diesem Moment des konzentrierten Schaffens und des in sich gekehrten Tüftelns steckt viel, was das Leben des 36-Jährigen ausmacht. Da ist auf der einen Seite das Rennvelo-Tandem, das es in dieser Form und mit diesen Anpassungen wohl nur ein einziges Mal auf der Welt gibt. Und da ist Wynistorfs Vergangenheit als Landmaschinentechniker – jenen Beruf, den er vor seiner Erblindung infolge eines schicksalhaften Schiessunfalls ausübte.

Auch wenn Wynistorf die einzelnen Bauteile seines Velos nicht sehen kann, helfen ihm die Routine und das Gefühl seiner Hände dabei, sie passgenau einzufügen und für seine Bedürfnisse zu optimieren. Aber was wäre ein Tandem ohne den dazugehörigen Gefährten und Rennkollegen? Der Parathlet fährt auf der Bahn zusammen mit Hervé Krebs, der hauptberuflich als Nationaltrainer der Schweizer BMX-Equipe arbeitet.

Dritte Heimat Velodrom

Zwischen den beiden herrscht eine genaue Arbeitsteilung: «Hervé ist für Lenkereinstellungen, Sattelhöhe und Reifendruck verantwortlich – ich tausche zum Beispiel Lager und mache die Feineinstellungen», sagt Wynistorf. Auch wenn der Berner eine enorme Fingerfertigkeit hat, kann er in seinem gelernten Beruf seit dem Unfall 2008 nicht mehr arbeiten.

Es begann eine Umschulungsphase, in der Wynistorf Blindenschrift und Sprachausgabe-Programme in Basel lernte. In dieser Zeit wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch neue Berufe vorgestellt – Wynistorf fand Gefallen an der Arbeit als medizinischer Masseur. «Immerhin waren so auch weiterhin die Hände bei der Arbeit ölig», scherzt der ehemalige Mechaniker rückblickend.

Wynistorfs Leben ist eine Art Dreiecksbeziehung: Entweder lebt und arbeitet er in Magglingen, besucht Freunde und Familie im heimatlichen Rüedisbach am Eingang des Emmentals, oder er ist in Grenchen.

Heute massiert Wynistorf Athletinnen und Athleten im Nationalen Sportzentrum in Magglingen. Seit beinahe acht Jahren ist er schon oben auf dem Hügel des Schweizer Elitesports. Er hilft den geschundenen Körpern bei der Regeneration – und schiebt vorher oder hinterher selbst harte Trainingsschichten.

Wynistorfs Leben ist eine Art Dreiecksbeziehung: Entweder lebt und arbeitet er in Magglingen, besucht Freunde und Familie im heimatlichen Rüedisbach am Eingang des Emmentals, oder er ist in Grenchen. Das Velodrom dort ist seine dritte Heimat. Dass Wynistorf heute durch den hölzernen Bahnparcours rast – ohne Augenlicht wohlgemerkt – war keineswegs vorgezeichnet.

Noch 2013 war der Berner fast ausschliesslich Ausdauersportler. «Ich war 15 Kilo leichter als heute und habe den 100-Kilometer-Lauf von Biel absolviert», sagt Wynistorf über diese Zeit. In Kursen konnte Wynistorf dann aber zum ersten Mal Tandem-Velorunden im Oval drehen – und war angefressen. «Das Gefühl der lang gezogenen Steilwandkurven ist einfach einmalig», schwärmt der Parathlet. Er könne sie zwar nicht mehr sehen, aber er wisse: «Diese Kurve ist sieben Meter hoch.»

Ziel: Paralympics

«Das Material ist absolut am Anschlag», sagt Wynistorf. Häufig sei an ihrem Renngefährt nicht das leichteste, sondern das stabilste Teil verbaut, um den Kräften standhalten zu können. Der Pilot Krebs kommuniziert in diesen Phasen der Ex­trembelastungen über kurze Zurufe mit seinem Gspänli. Manchmal reicht es aber nicht einmal mehr dazu, und einzig die Schlussglocke verspricht Wynistorf Erlösung.

«Man braucht einen unheimlichen Biss», sagt er über seinen Sport. Maximalkraft, rasender Puls, Laktat – im Para­sport sind das nicht die einzigen Richtwerte der eigenen Athleten-Existenz. «Für uns ist das Timing sehr wichtig», so Wynistorf. Sie müssten mit der gleichen Trittfrequenz unterwegs sein, gleich sitzen und die Bewegungen komplett aufeinander abstimmen.

«Das Gefühl der lang gezogenen Steilwandkurven ist einfach einmalig.»

Christof Wynistorf

Dafür brauche es stundenlange Übung. Derzeit trainiert das Duo zehn Stunden und mehr pro Woche auf der Bahn – ergänzt wird dies durch ein Fitnesstraining. Weil Krebs sein Wissen aus der Trainingslehre mitbringt und sich Wynistorf im Bereich Gesundheit auskennt, haben sie keinen eigenen Coach.

Aus sportlicher Sicht waren die Teilnahme an der Para-Cycling Track Open in Los Angeles und die Track-Cycling-WM in Apeldoorn (NL) für Wynistorf grosse Highlights. Eine Qualifikation für die Paralympics in Tokio ist dem Berner und seinem Co-Piloten zwar nicht gelungen, aber sie wollen alles daransetzen, noch schneller zu werden und entsprechende Qualifikationszeiten zu erreichen.