Auf der Suche nach dem Flow

Für die kommende Velosaison trainieren und den Festtagspölsterchen auf der Rolle zu Leibe rücken – das ist Spinning. Das Indoor-Training wird auch in unseren Breitengraden immer populärer.

Bettina Maeschli

Bettina Maeschli, Autorin (maeschlib@hotmail.com)
03.02.2022

Die Musik hämmert, der Schweiss tropft, die Beine brennen – im Dunkeln strample ich mir die Seele aus dem Leib. Vorne treibt eine für meinen Geschmack etwas zu enthusiastische Animatorin die «Riders» an: «You got it! Don’t give up! Almost there!»

Wie lange eine Minute sein kann, merke ich beim neuen Fitnesstrend Indoor Cycling, der zurzeit bei uns boomt. Er begann noch vor Corona und hat auch die Pandemie überlebt.* 60 Sekunden mit hoher Trittfrequenz und unter den anfeuernden Zurufen der Vorradlerin durchzustehen, kann unglaublich weh tun.

Und danach geht es gleich weiter, eine Bergetappe erwartet mich. Ich drehe auf Anweisung der Animatorin Sandy den Widerstand am Trainingsrad hoch, die Trittfrequenz wird verlangsamt, im Wiegetritt fahre ich in der Gruppe einen imaginären Pass hoch. 

Alternative zu Yoga?

Gleich mehrere Anbieter von Indoor Cycling haben in den letzten Jahren in Zürich Studios eröffnet. Die Spinning-Welle kommt aus den USA. Die Fitnessinstruktorinnen und -instruktoren sind meist Expats, viele der Kundinnen und Kunden auch. Dementsprechend dominiert die englische Sprache.

Das Publikum ist jung, ein grosser Teil weiblich. Man wähnt sich in den schicken Umkleidekabinen in einem Yogastudio. Das ist eigentlich nicht meine Welt. Trotzdem hat es mir das Indoor Cycling angetan.

Die treibenden Beats der überlauten Musik und die Dunkelheit, in der man sich für den eigenen roten Kopf nicht schämen muss, erfüllen ihren Zweck: Die Sorgen des Alltags lasse ich hinter mir, ich bin nur noch bei mir und meinen Beinen. Schon kurz nach dem Aufwärmen fliesst der Schweiss, denn einen kühlenden Fahrtwind gibts im Studio nicht. 

Spielerisches Messen auf der Rolle 

Sandy gibt eine Bandbreite für die Trittfrequenz an, die «rounds per minute» oder RPM, und das Niveau des Widerstands. Diese Werte zeigt es mir zusammen mit der Wattleistung, die ich trete, auf einem Velocomputer an.

Ich konzentriere mich darauf, die Vorgaben einigermassen einzuhalten. Gleichzeitig darf ich auf keinen Fall schon in den ersten zehn Minuten das ganze Pulver verschiessen. Es gilt, 50 Minuten lang mitzufahren. Dabei helfen die «beats per minute» der Musik, die sich idealerweise mit den RPM decken. So kann ich einen grossen Teil der knappen Stunde im Flow überstehen.

«Ich konzentriere mich darauf, die Vorgaben einigermassen einzuhalten. Gleichzeitig darf ich auf keinen Fall schon in den ersten zehn Minuten das ganze Pulver verschiessen.»

Ein zusätzlicher Ansporn ist das Klassement, das immer wieder mal an die Studiowand projiziert wird. Das Ranking erfolgt aufgrund der Zahl der durchschnittlichen Wattleistung, die wir treten. Ich sehe meinen Nickname und damit, wie gut ich unterwegs bin. Ich suche mir jemanden, der ein ähnliches Niveau fährt, und messe mich für den Rest des Kurses mit dieser Fahrerin.

Mit den Männern mitzuhalten, ist schwierig. Was draussen am Berg ein Nachteil ist, ist hier drinnen auf den Spinning-Velos ein Vorteil: ein höheres Körpergewicht. Die nicht selten fast doppelt so schweren Männer bringen viel mehr Druck auf die Pedale als ich.

Wird jedoch, was ab und zu gemacht wird, die um das Gewicht bereinigte Leistung auf dem Rankingboard angezeigt, fahre ich ganz vorne mit. Ansonsten messe ich mich mit den Frauen. Und tröste mich mit dem Gedanken, dass ich den einen oder anderen Muskelmann an einem Pass draussen wohl hinter mir lassen würde.

Doch im Studio wird niemand abgehängt, alle können mitfahren, unabhängig von der eigenen Fitness. In meinem Online-Account kann ich nach dem Kurs meine Werte abrufen und überprüfen, ob ich die Leistung gegenüber dem letzten Mal gesteigert oder ob ich nachgelassen habe: Ich bin meine eigene Gegnerin.

Gegenmittel zum Winterblues

Bis vor kurzem hätte ich mir noch nicht vorstellen können, dass ich in einem Studio trainiere. Ich liebe das Velofahren vor allem auch darum, weil es draussen stattfindet. Das Velo hat die schöne Eigenschaft, dass es alles nahe an die Fahterin oder den Fahrer heranlässt: die Geräusche, die Gerüche, Wind und Wetter. Es gibt immer etwas zu sehen, auf dem Fahrrad wird es mir nie langweilig. 

Auch deshalb drückt bei mir der Herbst jeweils auf die Stimmung: Die bevorstehende Dunkelheit und das nasskalte Wetter reduzieren die Möglichkeit zum Velofahren drastisch. Dem winterlichen Stimmungstief will ich zuvorkommen.

Dafür eignet sich das Indoor Cycling hervorragend. Selbstverständlich bin ich an einem schönen Wintertag immer noch draussen anzutreffen. Und im Sommer sieht man mich im Studio nicht mehr.

Nach 50 Minuten ist der Spuk vorbei, ein kurzes Stretching, und ich verlasse mit einem breiten Grinsen im Gesicht das Studio. Der Endorphinschub wirkt: Der Winterdepression lasse ich dieses Jahr keine Chance.