Kritisches zur Masse

Es ist höchste Zeit, dass Velofahrerinnen den automobilen Massen zeigen, dass die Strasse nicht ihnen allein gehören. Denn auch wenn es heute oft anders erscheint: Einst dominierten die Fahr­räder das Strassenbild.

Nicole Soland

Nicole Soland, Autorin
Kommentar, 09.09.2021

Seit Ende der 90er-Jahre findet auch hierzulande die offene Velo-Stadtrundfahrt namens Critical Mass statt. In Zürich etwa trifft man sich jeden letzten Freitagabend im Monat. Der Witz dieser Veranstaltung ist, dass lediglich Zeit und Ort bekannt gegeben werden.

Eine Organisatorin oder einen Organisator gibt es nicht, eine festgelegte Route auch nicht: Es ist ja keine Demo, sondern eine Rundfahrt für alle, die gerade Lust und Zeit haben. Ist die «kritische Masse» erreicht, sprich, mag die Gruppe nicht mehr warten, fahren die Ersten los, immer schön der Nase nach.

Zusammen mit vielen anderen Velofahrerinnen für einmal die ganze Breite der Strasse auszunutzen, statt wie üblich an den Rand gedrängt zu werden – das macht Spass!

Am letzten Freitag im Mai fanden sich zur Zürcher Critical Mass viel mehr Menschen ein als üblich: Es kamen nicht Hunderte, sondern Tausende. Die Stimmung war prächtig, doch die grosse Menge an Zweirädern gefiel nicht allen. Namentlich die Autofahrerinnen und -fahrer, die an einigen Kreuzungen recht lange warten mussten, waren nicht erfreut.

Zusammen mit vielen anderen Velofahrerinnen für einmal die ganze Breite der Strasse auszunutzen, statt wie üblich an den Rand gedrängt zu werden – das macht Spass!

«Geschieht ihnen recht, jetzt sehen sie mal, wie es sich anfühlt, wenn einen ein anderes Verkehrsmittel behindert und zum Warten zwingt!», ist ein naheliegender Gedanke dazu. Und ja, ich gebe es zu, ein bisschen dieser Schadenfreude habe auch ich mir gegönnt …

Am darauffolgenden Mittwoch nahm ich wie üblich als Berichterstatterin für die «P.S.»-Zeitung an der Sitzung des Zürcher Gemeinderats teil, und siehe da: Die SVP hatte extra eine Fraktionserklärung zu dieser Critical Mass vorbereitet. Sie war so formuliert, dass man hätte meinen können, ein Verbrechen sei passiert: Es sei zu einem «künstlich produzierten Verkehrskollaps» gekommen.

Die Behinderung des Verkehrs sei «ein Straftatbestand und gehört ohne Wenn und Aber geahndet!», rief der SVP-Sprecher in den Saal. Ein Grüner entgegnete daraufhin cool, die Velofahrerinnen und -fahrer hätten «das gleiche Recht wie die Zehntausende Autos, die täglich in die Stadt fahren, regelmässig den Verkehr behindern, den ÖV behindern, die Rettungsfahrzeuge behindern und Stau produzieren».

Auf Fotos vom Zürcher Bellevue aus den 50er-Jahren sieht man ausser ein paar Trams nur Velos, so weit das Auge reicht. Manches war früher eben doch besser!

Recht hat er, natürlich! Doch ist damit alles gut? Ein mit Benzin oder Diesel betriebenes Auto ist heutzutage ein Auslaufmodell. Doch auch Autos mit Elektromotor brauchen viel mehr Platz als Velos. Den Autos einmal im Monat zu zeigen, was wäre, wenn, kann deshalb nicht schaden.

Seit jener von Ende Mai gab es weitere «kritische Massen» – mit ebenfalls vielen, wenn auch nicht ganz so vielen Teilnehmenden. Ganz toll wäre es natürlich, wenn man irgendwann nicht nur an der Critical Mass zu zweit oder gar zu dritt nebeneinander fahren könnte. Reine Utopie? Wie mans nimmt: Auf Fotos vom Zürcher Bellevue aus den 50er-Jahren sieht man ausser ein paar Trams nur Velos, so weit das Auge reicht. Manches war früher eben doch besser!

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