Fünfeinhalb Millionen Personenautos und Motorräder sowie vier Millionen Velos teilen sich in der Schweiz die Plätze, Gassen und Strassen – in Städten, Dörfern und auf dem Land. Über den Daumen gepeilt kämen im Verkehrsfluss also etwa vier Motorfahrzeuge auf drei Fahrräder, die gerechte Aufteilung wäre also fast halbe halbe.
Schaue ich mir aber den Verkehr in der velofreundlichen Stadt Bern an, reibe ich mir die Augen. Da kommen auf ein einziges Fahrrad zweihundert, dreihundert oder noch mehr Motorfahrzeuge. Ich bohre ein bisschen nach bei Velosuisse, der Vereinigung der Schweizer Veloimporteure. Deren Medienstelle hält fest, dass von den vier Millionen Velos der Statistik eben nur drei Millionen im Gebrauch sind. «Der Rest fristet sein Dasein in Garagen, Kellern, Estrichen etc.»
«Es sind bizarre, vor sich hinrostende Zeugen schweizerischer Wohlstandsverwahrlosung.»
Wer wissen will, was mit dem Etcetera von Velosuisse gemeint ist, wird bald fündig vor Bahnhöfen, Schulen, Sportanlagen. Dort stehen und liegen sie haldenweise ineinander verkeilt, zu Dutzenden, zu Hunderten, zum grossen Teil ausser Gefecht vergammelt, oft nurmehr einrädrig, plattreifig, mit abgerissenen Bremsen, ausgehängten Ketten, weggewürgten Lampen, in die Luft verrenkten Schutzblechen wie die Beine verendeter Tiere.
Stumme Zeugen
Es sind bizarre, vor sich hinrostende Zeugen schweizerischer Wohlstandsverwahrlosung. In welchem Gegensatz steht dazu der propere, der heilige motorisierte Fuhrpark, alle diese herausgepützelten, gewachsten Autos und gewichsten Motorräder! Hätte eines der Fahrzeuge eine Beule, blieben die Passanten stehen, um sie zu betrachten und zu fotografieren. Doch es gibt keine Beule, und nirgends ist hierzulande eine verrottende Autoleiche zu erblicken; dabei wäre auch sie eine Sehenswürdigkeit. An den Massenfriedhöfen des Veloschrotts gehen tagtäglich Tausende Menschen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Der Audi in der Garage
Es gibt velophile Leute, die ihre teuren Maschinen nicht dem brutalen Alltag des Diebstahls aussetzen mögen und sich deshalb ein billig zusammengeschustertes Exemplar zulegen, das sie dann ihr Stadtvelo nennen. Für diese Veloklasse gibt es ja einen soliden Markt.
«An den Massenfriedhöfen des Veloschrotts gehen tagtäglich Tausende Menschen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.»
Mein Nachbar hat sich vor Monaten einen solchen Eingänger angeschafft und erzählt stolz, das Ding habe bloss hundert Franken gekostet. Ich sehe das elegante Ding immer wieder, Woche um Woche, unter dem Velodach stehen, und dann steht es plötzlich nicht mehr da, kommt und kommt, Woche um Woche, nicht mehr zurück.
Da aber läuft mir wieder einmal mein Nachbar über den Weg, und ich frage ihn nach dem Verbleib seines Stadtvelos. Der junge Mann kratzt sich am Kopf und sagt, er wisse nicht mehr, wo er es habe stehen lassen, doch er werde sich vielleicht ein neues kaufen; vielleicht aber auch nicht, denn lieber als ein Velo fahre er seinen Audi, und der steht sicher in einer geheizten Garage.