Wir sind im Niemandsland. Der Hochland-Linienbus macht beim einzigen Häuschen seit gut 60 Kilometer halt, damit der Busschauffeur einen Kaffee trinken kann. Mitten auf der isländischen Hochebene, wo der Wind pfeift und die Sonne mit den Wolken ringt, denkt man nichts Böses und ich steige frohgelaunt aus dem Bus. (Ja, Marius kann auch ohne Velo reisen.) Kaum die Füsse auf dem Boden springt ein in Gore-Tex eingehüllter Mann auf mich zu: «Hey, was für ein Glück. Ich kenn dich, du bist doch von dieser Velowerkstatt in Kriens. Mein Velo hat gerade ein Problem mit der Schaltung, da kannst du sicher schnell helfen».
Meine Tochter rollt die Augen, sie kennt das. Guter Mann, ich habe Ferien, verstehst du! Darum bin ich hier in Island und nicht in der Werkstatt. Und ich bin nicht hier, um Dinge zu flicken, die wir mit einem Service hätten verhindern können. Herrgott. In meinem Kopf beginnen Engelchen und Teufelchen eine hitzige Diskussion: Das eine meint, dass ich doch wohl schauen könne, schliesslich hilft man Menschen in Not. Das Velomechaniker-Gelübde. Das andere poltert auf das Recht auf Erholung und wirft ein, dass mir der Dorfbäcker hier auch kein Brötchen backen würde, wenn ich zu wenig Proviant eingepackt habe. Das erste kontert, dass die ewige Dankbarkeit eines Kunden winke, oder andersrum die Google-ein-Sterne-Strafe droht. Das andere mahnt: Pause ist Pause.
«Wäre ich Statistiker bei der Bank oder städtischer Beamte würde mir das nicht passieren.»
Dasselbe passiert auch an Glühwein-Apéros, im Kino oder am Glace-Stand. Und es gibt noch weit schlimmere Fälle: Sie beginnen meist mit strengem Blick und «vor zwei Monaten war ich bei euch in der Werkstatt …» oder «Ihr habt da einen Mitarbeiter …». Doch als Velohändler sind wir in guter Gesellschaft: Ein befreundeter Herzspezialist sagte mir letzthin, dass er an kein Geburtstagsfest gehen könne, ohne dass ihn jemand am Jackenärmel zupft und flüstert, dass er seit einiger Zeit in der Herzgegend so ein
komisches Gefühl habe. Nach der Theater-Vorstellung stellt sich aus diesem Grund nur noch seine Frau in die Warteschlange bei der Garderobe und er wartet draussen. Auch mein Bekannter aus dem EDV-Support hat mir letzthin gestanden, dass er sich deshalb manchmal bei gesellschaftlichen Anlässen davonschleicht.
Doch, so denke ich mir, es ist auch schön einen Beruf zu haben, der selbst im isländischen Hochland nützlich sein kann. Wäre ich Statistiker bei der Bank oder städtischer Beamte würde mir das nicht passieren. Ich möchte mit keinem dieser Berufe tauschen.
Jetzt gerade möchte ich aber einfach nur meine Ferien geniessen. Ich sage nichts von all dem, was ich denke, und schaue mir die Schaltung zum Ärger meiner Tochter geduldig an. Ich habe Glück (der Radler nicht): Das Schaltauge ist gebrochen, da gibts nichts mehr zu tun. Gott sei Dank will der Mann nun nicht auch noch über die Sinnhaftigkeit von auswechselbaren Schaltauge und deren Variantenreichtum diskutieren.
Marius Graber ist seit mehr als 35 Jahren Velohändler in Luzern und schreibt seit 25 Jahren für Fachmagazine, darunter Velojournal, Cyclinfo und Velobiz über Fahrradtechnik, Reisen und die Branche.