Warum rechnet die Schweiz nicht mit dem Velo?

Mit Berechnungen machen die Schweizer Behörden das wirtschaftliche Potenzial des Velos zunichte, während sich unsere Nachbarländer dafür starkmachen. Ein Überblick.

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Juerg Haener
Pro Velo, 16.11.2022

Der Schriftsteller, Wissenschaftler und Soziologe Albert Brie sagte einst: «Das letzte Wort in einer Sache ist immer eine Zahl.»

Das stimmt. Aber wem das Wesen von Zahlen nicht ganz fremd ist, weiss auch, dass sie nur ein Endergebnis sind, ein Spiegelbild des Prozesses, der sie hervorbringt. Zahlen hängen von den Berechnungen ab, die ihnen vorausgehen. Dies gilt auch, wenn es um den wirtschaftlichen Wert geht, der dem Velo in der Schweiz zugeschrieben wird.

Seit einigen Jahren drückt die ökologische Krise auf unser Gewissen und fordert immer dringender, weniger umweltschädliche Lösungen für unsere Einkäufe, unsere Reisen und unsere Freizeitgestaltung zu finden. Die neue Energiekrise zwingt uns, Entscheidungen zu treffen und den Akt des Verzichts neu kennenzulernen. Unsere Behörden geben Ratschläge, wie wir unseren Energieverbrauch senken können, und ermutigen uns, nachhaltige Mobilitätsgewohnheiten anzunehmen. 

6,2 Milliarden Euro in Italien, 2,9 Milliarden in Österreich

Und dennoch: Wenn es um das Velo geht, bricht der Elan ein, der Applaus wird schwächer. In vielen europäischen Ländern ist das Velo Gegenstand eingehender Studien, in denen sein wirtschaftliches Potenzial hervorgehoben wird.

Die 2017 veröffentlichte italienische Studie «L’A BI CI» schätzt, dass der italienische Velomarkt, in den sie die Produktion von Velos und Zubehör, Veloferien sowie den externen Nutzen der Velomobilität einbezieht, einen Jahresumsatz von 6,2 Milliarden Euro erwirtschaftet. Dies übersteigt die Einnahmen, die etwa durch den Weinexport erzielt werden.

Erst kürzlich hat eine österreichische Studie festgestellt, dass sich Investitionen in die Velomobilität mit einer geschätzten jährlichen Bruttowertschöpfung von 2,9 Milliarden Euro und insgesamt 46 000 Beschäftigten in der Fahrradbranche bezahlt machen.

Laut der Studie generiert das Velo zudem externe Erträge in Höhe von umgerechnet 18 Euro pro 100 Kilometer, während das Auto auf derselben Strecke externe Kosten in Höhe von 16 Euro verursacht.

In diesem Zusammenhang haben die nationalen und regionalen Behörden Österreichs in diesem Jahr eine Vereinbarung unterzeichnet, die darauf abzielt, den Anteil des Veloverkehrs von 7 auf 13  Prozent zu erhöhen.

Und: Unsere nordischen Nachbarn loben das Fahrrad in wirtschaftlicher Hinsicht ebenfalls. In einem 2015 veröffentlichten Velobericht rechnet die Stadt Helsinki vor, dass jeder in den Ausbau von Radwegen investierte Euro einen Nutzen von 8,7 Euro erbringt, der sowohl durch positive Auswirkungen auf die Gesundheit als auch durch kürzere Fahrtzeiten der Bevölkerung repräsentiert wird. 

Wie sieht es in der Schweiz aus?

In einer kürzlich veröffentlichten Studie rechnet das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) vor, dass durch Staus Kosten von über 3 Milliarden Franken pro Jahr verursacht werden. Diese Zahl, die ungefähr 200 000 Stunden Verspätung im Verkehr entspricht, betrifft vor allem Privatfahrzeuge (in 90 % der Fälle) und Fahrten auf Strassen im Nahbereich.

Und was sind die vom Bund vorgeschlagenen Lösungen? Die Beseitigung von Engpässen durch neue Strassen! Aber keine Erwähnung des Velos, obwohl die Hälfte aller Autofahrten kürzer als fünf Kilometer ist und das Velo den Verkehr in den Städten entlasten würde.

«Es ist unverständlich, dass die Schweiz im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn auf so tiefe Zahlen kommt.»

Jürg Buri, Geschäftsleiter Pro Velo Schweiz

In einer im Juni 2022 veröffentlichten Studie berichtete das ARE über die «Externen Kosten und Nutzen des Verkehrs» und kam zum Schluss, dass alle Fortbewegungsmittel, mit der einzigen Ausnahme des Fussverkehrs, eine negative Bilanz aufweisen würden. In diesem Sinne würden unsere Fahrten mit dem Velo externe Kosten von 566,3 Millionen Franken pro Jahr verursachen, denen nur 462,6 Millionen Nutzen gegenüberstünden.

Jürg Buri, Geschäftsleiter von Pro Velo Schweiz, ist fassungslos über die vom ARE produzierten Ergebnisse: «Es ist unverständlich, dass die Schweiz im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn auf so tiefe Zahlen kommt. Die gute Nachricht? Pro Velo hat dem ARE in einem Gespräch nahegelegt, die Methodik zu überprüfen. Tatsächlich soll dies bis 2024 erfolgen. Nur wenn die Behörden und die Bevölkerung die wirtschaftlichen Vorteile des Velos für unsere Gesellschaft und unsere Zukunft verstehen, können wir unsere Veloinfrastruktur ausbauen.»

Hat das letzte Wort in einer Sache somit immer eine Zahl? Diesmal nicht. Wenn unsere Bundesbehörden zu solch schlechten Zahlen kommen, dann nicht, weil sie sich in ihren Berechnungen irren, sondern weil sie sich auf Prämissen stützen, die für das Velo ungünstig sind.

Und wenn klar ist, dass die oben erwähnten Studien ebenso willkürlich sind, da sie gerade günstige Ergebnisse erzielen wollen, bleibt die Frage, warum unsere Bundesämter die Förderung des Velos vernachlässigen, anstatt es systematisch in ihre Energie- und Klimastrategien zu integrieren.

Im Bereich der Mobilität entsprechen die internen Kosten jenen Ausgaben, die die Verkehrsteilnehmenden übernehmen, indem sie einen Teil der von ihnen verursachten Kosten selbst tragen. Zu diesen Kosten gehören Benzinkosten, Zugtickets usw.
Externe Kosten entstehen in Form von Schäden in den folgenden Bereichen: Umwelt, Unfälle, Gesundheit. Sie werden von Dritten, der Allgemeinheit oder sogar von künftigen Generationen getragen.

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